(Leipzig) – Bis 2040 wollen die europäischen Gasnetzbetreiber ein Wasserstoffnetz betreiben. Damit der Energieträger in Industrie und Privathaushalten genutzt werden kann, bedarf es einer entsprechenden Infrastruktur.
Wissenschaftler der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) testen seit Mai 2019 im „Wasserstoffdorf“ Chemiepark Bitterfeld-Wolfen gemeinsam mit der Mitteldeutschen Netzgesellschaft Gas mbH (Mitnetz Gas) und der DBI Gas- und Umwelttechnik GmbH unter realen Bedingungen, wie Wasserstoff sicher, kostengünstig und umweltverträglich verteilt werden kann. Dafür erhielt das Konsortium den Innovationspreis der deutschen Gaswirtschaft in der Kategorie „Anwendungsorientierte Forschung“. Mit der Testinfrastruktur würden „vielfältige wichtige und praxisbezogene Erfahrungswerte bei Transport, Verteilung und Anwendung von 100 Prozent Wasserstoff“ gesammelt, erklärte die Jury – „Wissen und Grundlagen, die für die Umstellung der bestehenden Gasinfrastruktur auf Wasserstoff dringend benötigt werden.“
1,4 Kilometer langes Verteilnetz
Im Wasserstoffdorf wird auf einer Versuchsfläche von 12.000 Quadratkilometern der Transport von Wasserstoff erprobt. Herzstück sei das 1.400 Meter lange Verteilnetz, an welches den Angaben zufolge eine Gasdruckregel- und -messanlage sowie ein Versuchscontainer mit Messtechnik angeschlossen sind.
Die bisherige Forschung ergab, „dass prinzipiell die vorhandene Erdgasinfrastruktur nach Prüfung und gegebenenfalls Anpassung auch für Wasserstoff genutzt werden“ könne. Problem: Die bislang für Gasverteilnetze verwendeten Kunststoffmaterialien geben Reststoffe in den transportierten Wasserstoff ab, so die Wissenschaftler. Für bestimmte Anwendungen wie beispielsweise Brennstoffzellen werde allerdings besonders reiner Wasserstoff benötigt.
Die Ingenieure der DBI-Gruppe untersuchen daher, welche Materialien dafür geeignet sind und wie sie sich im Langzeitbetrieb bewähren. Ein Team um HTWK-Professor Robert Huhn wertet umfassende Monitoringdaten des Wasserstoffdorfs aus und analysiert die Wasserstoffwertschöpfungskette im Rahmen einer Ökobilanzierung (Life Cycle Analysis). Die MITNETZ Gas wiederum entwickelt Strategien für Betrieb und Instandhaltung von Wasserstoffverteilnetzen.
Das Wasserstoffdorf Bitterfeld-Wolfen entstand im Rahmen des Projekts „Hypos“ mit Fördermitteln des Bundesforschungsministeriums. Die aktuellen Aktivitäten werden im Folgeprojekt „H2-Infra“ aus Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz mit 1,2 Millionen Euro gefördert.
Innovationen: Weitere Preisträger
Der Innovationspreis der deutschen Gaswirtschaft wird alle zwei Jahre für zukunftsweisende Energiekonzepte vergeben. Träger sind der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (BDEW), der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW) sowie Zukunft Gas e.V., ebenfalls eine Initiative der Gaswirtschaft. Überdies sind die Arbeitsgemeinschaft für sparsamen und umweltfreundlichen Energieverbrauch e.V. (ASUE) und das Unternehmen Wintershall Dea beteiligt. In diesem Jahr wurden aus über 50 Bewerbungen zwölf Projekte in den vier Kategorien „Anwendungsorientierte Forschung“, „Nachhaltige Erzeugung“, „Intelligente Infrastruktur“ und „Effiziente Anwendungstechnik“ nominiert und ausgezeichnet. Außerdem wurde ein „Gamechanger“-Projekt auserkoren. Die weiteren Gewinner sind:
- Nachhaltige Erzeugung: Die Landwärme GmbH und die Reverion GmbH haben eine wirtschaftliche Kreislauf-Technologie zur CO2-negativen Produktion von Biogas, Strom und Wasserstoff entwickelt.
Im bayerischen Reimlingen entsteht an der Biogasaufbereitungsanlage des Biomethanhandelsunternehmens Landwärme eine Erweiterung, die die Abscheidung und Endlagerung von CO2 (Carbon Capture and Storage, CCS) ermöglicht. Bei der Reinigung von Biogas zu Biomethan ist die Abscheidung von CO2 ohnehin Teil des Prozesses, erklären die Unternehmen. Der verbleibende hohe Methangehalt erlaube eine Einspeisung ins Erdgasnetz und damit die dezentrale Nutzung. Das abgeschiedene CO2 wird im nächsten Schritt verflüssigt und eingelagert – zum Beispiel in tiefen Steinschichten unter dem Meer. Alternativ könne es in technischen Anwendungen wie Feuerlöschern oder in der Lebensmittelindustrie als Kohlensäure genutzt werden. Ein Teil des Biomethans werde mittels Brennstoffzelle zu Strom umgewandelt, das dabei anfallende CO2 rückgeführt und während der bestehenden Gasaufbereitung abgeschieden. Das System könne Stromüberschuss im Netz nutzen und durch Elektrolyse Wasserstoff erzeugen. Mit dieser Technologie ließen sich „zusätzlich in Zeiten von hoher Solar- und Windstromerzeugung langfristig speicherbare Gase produzieren und dadurch die Importabhängigkeit aus Drittländern reduzieren“, sagt Stephan Herrmann, Gründer und Geschäftsführer von Reverion. Das CCS-Projekt von Landwärme und Reverion gehe voraussichtlich 2023 in Betrieb.
- Intelligente Infrastruktur: Die Berliner PSI Software AG visualisiert mit der Software-Lösung „PSIcontrol/Greengas“ Wasserstoff-Kompatibilitätsanforderungen und -zustände für die Netzinfrastruktur.
Damit können Einspeisungen von Wasserstoff, Biomethan oder Flüssigerdgas (LNG) simuliert und „komplexe Gasnetze mit unterschiedlichen Gasbeschaffenheiten sicher überwacht und effizient gesteuert“ werden, so das Unternehmen. Zudem ließen sich „Steuervorgaben für energie-äquivalente Gaslieferungen in der geforderten Gasbeschaffenheit errechnen“. Wasserstoff-Hubs, Biomethan und LNG-Lieferungen könnten von Gasnetzbetreibern über das gut ausgebaute Gasnetz in das Energiesystem integriert werden.
- Effiziente Anwendungstechnik: In dieser Kategorie geht der Preis an ein Konsortium aus Kawasaki Gas Turbine Europe GmbH, B&B-AGEMA GmbH, IDG a. d. RWTH Aachen und FH Aachen für die Entwicklung eines H2-Verbrennungssystems für industrielle Gasturbinen.
„Aufgrund des großen Unterschiedes der physikalischen Eigenschaften von Wasserstoff im Vergleich zu anderen Brennstoffen wie Erdgas“ könnten bereits etablierte Dry Low Emission (DLE) Gasturbinenverbrennungssysteme allerdings nicht unmittelbar für die Wasserstoffverbrennung eingesetzt werden, heißt es bei Kawasaki. Die Entwicklung einer sogenannte Micro-Mix-Brennstoffkammer ermögliche aber den Betrieb von Gasturbinen mit 100 Prozent Wasserstoff. Das Verbrennungssystem erreiche den Angaben zufolge „ohne zusätzlichen Wasser- oder Dampfeinsatz“ deutlich niedrigere Stickstoff-Emissionen (NOx) „als konventionelle Verbrennungssysteme“ und verbrenne Wasserstoff CO2-frei.
- Gamechanger: Zusätzlich wurde das Projekt „Energy-Hub“ Wilhelmshaven als „Gamechanger“ geehrt. Vom Aufbau einer LNG-Importinfrastruktur über die Erzeugung von grünem und blauen Wasserstoff und neuen Importkapazitäten für Wasserstoff, Ammoniak sowie synthetischem Methan bis zur Wasserstoffspeicherung, dem Bau von Wasserstoffleitungen sowie industriellen Wasserstoffanwendungen werde der Hafen die gesamte Wertschöpfungskette der zukünftigen Wasserstoffwirtschaft abbilden.
Durch den schnellen Aufbau der Importinfrastruktur für Flüssigerdgas trage das Projekt „maßgeblich zur Sicherung unserer Energieversorgung bei“. Die Autoren einer aktuellen von der Deutschen Energie-Agentur GmbH (Dena) herausgegebenen Studie bescheinigen dem Energy Hub, er sei „ein Schlüsselstandort für den Import von Wasserstoffderivaten und beschleunigt den Hochlauf einer internationalen Wasserstoffwirtschaft in Europa“. Bis 2030 seien Elektrolyseure mit einer Gesamtleistung von 1,1 Gigawatt geplant. „So könnten durch Eigenerzeugung und Import über 50 Prozent des deutschen Wasserstoffbedarfs im Jahr 2030 durch den Energy Hub gedeckt werden.
Tipp: Tag der offenen Tür. Das Wasserstoffdorf Bitterfeld-Wolfen öffnet am 9. November und am 14. Dezember 2022 für Interessierte seine Türen. Der Veranstalter bittet um Anmeldung.
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Im Wasserstoffdorf Bitterfeld-Wolfen gibt es ein mittlerweile 1.400 Meter langes Verteilnetz für reinen Wasserstoff. © Envia M / Hans-G. Unrau