(Bremen / Deutschland) – Die Stahlindustrie gehört in Deutschland zu den größten CO2-Emittenten – weltweit verursacht die Stahlproduktion acht bis elf Prozent der Emissionen. Gut für alle, wenn neue Technologien genutzt werden, um die Schadstoffe zu reduzieren. Dazu wollte auch ArcelorMittal S.A. einen Beitrag leisten.

Vorhaben gestoppt: Der Luxemburger Konzern hatte seit Jahren geplant, in den Flachstahlwerken Bremen und Eisenhüttenstadt die dortigen mit Koks befeuerten Hochöfen bis 2030 zu ersetzen. © ArcelorMittal S.A.
Doch nun hat der Luxemburger Konzern sein seit Jahren verkündetes Vorhaben gestoppt. Geplant war, in den Flachstahlwerken Bremen und Eisenhüttenstadt die dortigen mit Koks befeuerten Hochöfen bis 2030 zu ersetzen. In Bremen sollte eine zunächst mit Erdgas und später perspektivisch mit grünem Wasserstoff betriebene Direktreduktionsanlage (DRI) das Eisen aus den Erzen filtern und die daraus resultierenden Pellets in einem Elektrolichtbogenofen (EAF) zu Rohstahl verarbeiten. Baubeginn sollte in diesem Monat sein. Die Inbetriebnahme der neuen Produktionsanlagen war für 2026 vorgesehen (wir berichteten mehrfach). Das Stahlwerk ist Medienberichten zufolge für rund die Hälfte der Treibhausgasemissionen des Landes Bremen verantwortlich.

Zu früh gefreut: Der vormalige Wirtschaftsminister Robert Habeck überbrachte dem Management und der Belegschaft von ArcelorMittal in Eisenhüttenstadt vor Jahresfrist den Förderbescheid über 1,27 Milliarden Euro, weitere rund 251 Millionen stammen vom Bundesland Bremen. Jetzt erklärte der Stahlkonzern, man habe daran kein Interesse mehr. © ArcelorMittal S.A.
Für das Vorhaben waren staatliche Mittel in Höhe von 1,3 Milliarden Euro eingeplant. Der seinerzeitige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte eigens den von der EU genehmigten Förderbescheid vor Jahresfrist unter großem Beifall in Eisenhüttenstadt überreicht. Die Summe beinhaltete eine Kofinanzierung des Landes Bremen von rund 251 Millionen Euro für die DRI-Anlage in der Hansestadt. „Mit dem Förderbescheid haben wir einen Teil der Kosten gesichert, die wir für den Bau und Betrieb neuer Anlagen zur Dekarbonisierung brauchen“, frohlockte im Juni 2024 Thomas Bünger, CEO von ArcelorMittal Flachstahl Deutschland. Die Gesamtinvestitionen für das Dekarbonisierungsvorhaben hätten den Angaben zufolge bei rund 2,5 Milliarden Euro gelegen.
Unternehmen sieht sich nicht verantwortlich
Vor wenigen Tagen dann der Paukenschlag: Das Unternehmen erklärte, man habe „keine finalen Investitionsentscheidungen“ treffen können. Verantwortlich seien „die politischen, energie- und marktbezogenen Rahmenbedingungen“, die sich „nicht in die erhoffte Richtung entwickelt“ hätten. Da der Fördervertrag mit der Bundesregierung den Beginn der Bauarbeiten bis Juni 2025 vorsah, war ArcelorMittal verpflichtet, der Regierung mitzuteilen, dass man „aufgrund der Marktsituation“ die Investitionen nicht weiterführen könne. „Selbst mit der finanziellen Unterstützung ist die Wirtschaftlichkeit dieser Umstellung nicht ausreichend gegeben“, sagt Geert Van Poelvoorde, CEO von ArcelorMittal Europe.

Ratschläge von ArcelorMittal an die Politik: Stahlimporte begrenzen, Fördermittel erhöhen, Strompreis senken. © Deutscher Bundestag / Thomas Trutschel
Mit Ratschlägen für die Politik wird nicht gegeizt. So sei es „dringend erforderlich“, etliche Probleme anzugehen, etwa die hohen Importe in den ansonsten von schwacher Nachfrage gekennzeichneten europäischen Markt: „Wir brauchen eine Begrenzung der Importe für Flachprodukte auf 15 Prozent, was einer Reduzierung um etwa 50 Prozent gegenüber dem aktuellen Stand entspricht“, so Geert Van Poelvoorde. Hinzu komme die Wirksamkeit neuer Instrumente zur Unterstützung von Sektoren mit schwer vermeidbaren Emissionen, außerdem sei der Strompreis zu hoch, denn die Umstellung bedeute den Wechsel von Kohle als Energieträger zu einem Ofen, der mit Erdgas und Strom betrieben werde.
Erste Anzeichen von Krise im November
Erste Anzeichen dafür, dass das Projekt kriseln könnte, gab es im November vergangenen Jahres. In einer als „Update“ bezeichneten Mitteilung stimmte ArcelorMittal seine Stakeholder auf eine Entschleunigung bei der Umsetzung seiner Dekarbonisierungsziele ein. Man habe zwar Kunden, die kohlenstoffarmen Stahl wollten, „aber diejenigen, die das wollen und bereit sind, einen Aufpreis zu zahlen, sind immer noch sehr in der Minderheit“, sagt der Vorstandsvorsitzende Aditya Mittal.
Er zeigte sich „nach wie vor zuversichtlich, dass wir unser Netto-Null-Ziel bis 2050 erfüllen, aber die Art und Weise, wie wir dies erreichen, könnte sich von dem unterscheiden, was zuvor angekündigt wurde“. Auch hier wurde bereits das „europäische Marktumfeld“ bemüht. Politik und Energiemärkte hätten sich „nicht in eine günstige Richtung entwickelt“. Grüner Wasserstoff entwickele sich nur sehr langsam zu einer brauchbaren Kraftstoffquelle, und die erdgasbasierte DRI-Produktion in Europa sei als Zwischenlösung „noch nicht wettbewerbsfähig“, so der Konzernchef.
Wut in Bremen und Brandenburg
Noch in der ersten Juniwoche dieses Jahres war der neue Vorsitzende der Geschäftsführung für die beiden Standorte Bremen und Eisenhüttenstadt, Rainer Böse, zu Gast bei Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte. Der ließ anschließend über seine Pressestelle verlauten, er freue sich, dass „der neue Chef des Werkes so kurz nach seinem Amtsantritt den Kontakt“ suchte. „Ich habe mich gerne mit ihm über alle anstehenden Fragen ausgetauscht“ – keinerlei Hinweis, dass es kurz darauf vernehmlich knallen sollte.

Der neue Chef der ArcelorMittal-Hütte Bremen und Vorstandsvorsitzende Rainer Böse (rechts) zum freundlichen Antrittsbesuch bei Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte. „Kontakt zur Hütte ist wichtig“, sagte Bovenschulte. Und kaum zwei Wochen später: „Wir werden die Stahlbosse nicht aus der Verantwortung lassen.“ © Senatspressestelle Bremen
Umso größer dann die Wut in der vergangenen Woche: „Wir werden die Stahlbosse nicht aus der Verantwortung lassen“, tobte Bovenschulte: „Es ist ein schwerer Schlag“ auch „für den Bremer Wirtschaftsstandort und für die Zukunft der Hütte“, dass ArcelorMittal sich von der Transformation der Stahlindustrie verabschiede. Er erwarte, dass sich der Konzern „ zu dem Werk und der Stahlproduktion in Bremen bekennt“. Auch der Bremer Senat zeigt sich verärgert, „nachdem Politik und Unternehmen so lange gemeinsam an einer Perspektive für das Bremer Stahlwerk gearbeitet haben“. Bremen habe sich dafür eingesetzt, dass der Standort an das Wasserstoffkernnetz angeschlossen werde und alle Voraussetzungen geschaffen für die Entwicklung des Energieknotens, um dem Stahlwerk die Transformation zu ermöglichen.
Finanzsenator Björn Fecker bezeichnete den Rückzug als „kurzsichtigen Schritt“ hinsichtlich der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit, gerade „mit Blick auf die zügig voranschreitende Dekarbonisierung der chinesischen Stahlerzeugung“. Künftiges Wirtschaften finde unter den Bedingungen des Klimawandels statt. Fecker: „Wer heute nicht die Basis dafür legt, ist morgen schlimmstenfalls nicht mehr am Markt.“
Grüner Stahl werde ja längst produziert, auch in China, sagt Kristina Vogt, Senatorin für Wirtschaft, Häfen und Transformation: „Die Entscheidung von ArcelorMittal ist gegenüber den Beschäftigten verantwortungslos und industriepolitisch falsch.“ Man habe die Dekarbonisierung der Bremer Hütte mit 840 Millionen Euro an staatlicher Förderung durch Land und Bund massiv unterstützt. „Ich erwarte, dass der Konzern jetzt schnell einen klaren Plan für den Standort Bremen auf den Tisch legt, der sowohl die Zukunft des Werkes als auch die Arbeitsplätze sichert.“

ArcelorMittal beschäftigt in Eisenhüttenstadt rund 2.700 Mitarbeiter. Um den Standort und die Arbeitsplätze langfristig zu sichern, hatte der Konzern geplant, den Hochofen durch eine DRI-Anlage nebst Elektrolichtbogenofen zur Stahlerzeugung zu ersetzen. © ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH
In Brandenburg ist man ebenfalls sauer auf den Stahlkonzern. „Das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt ist Herz und Rückgrat von Ostbrandenburg“, sagt Ministerpräsident Dietmar Woidke. Die Landesregierung unternehme alles, um die Arbeitsplätze im Stahlwerk zu schützen. „Mit der Förderung sollte auch eine Investition in den Standort Eisenhüttenstadt erfolgen, die einen wichtigen Schritt zum Umbau des Stahlwerkes bedeutet hätte“, sagt Daniel Keller, brandenburgischer Minister für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Klimaschutz. Im regelmäßigen Austausch mit dem Unternehmen habe man immer wieder auch über Fördermöglichkeiten gesprochen. „Wir werden gemeinsam mit dem Unternehmen, dem Betriebsrat und allen weiteren betroffenen Akteuren beraten, wie das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt sicher für die Zukunft aufgestellt werden kann.“
Weitreichende Folgen für andere Industrien
Der Rückzug hat auch Folgen für andere Vorhaben: So zieht der Energieversorger EWE AG nun ebenfalls die Reißleine und lege sein Pläne für die Wasserstoffproduktion am Kraftwerksstandort Mittelsbüren auf Eis, berichtet Radio Bremen. Im Januar 2024 hatten ArcelorMittal und EWE eine vorläufige Vereinbarung getroffen, wonach der Energieversorger voraussichtlich ab 2028 grünen Wasserstoff aus einer 320-Megawatt-Erzeugungsanlage in Emden nach Bremen liefern sollte.

Ein Konsortium namhafter Konzerne will im Nordwesten ein Wasserstoffcluster mit einer Elektrolysekapazität von 400 Megawatt aufbauen als Teil des vier Abschnitte umfassenden Vorhabens „Clean Hydrogen Coastline“. Beteiligt sind die EWE AG der Stahlkonzern ArcelorMittal Bremen, der Fahrzeugbauer Faun, der Fernleitungsnetzbetreiber Gasunie, der Energieversorger SWB und der Übertragungsnetzbetreiber Tennet. © EWE AG
Insgesamt wollte EWE nahe der deutschen Nordseeküste bis zu 400 Megawatt Elektrolysekapazität installieren, womit jährlich bis zu 40.000 Tonnen grüner Wasserstoff produziert werden könnten. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, die Erzeugungskapazitäten bis in den Gigawatt-Maßstab auszubauen. Ausgangspunkt der großtechnischen Herstellung des grünen Wasserstoffs für ArcelorMittal war das Großprojekt „Clean Hydrogen Coastline“. Dieses bringt Erzeugung, Speicherung, Transport und Nutzung in der Industrie zusammen (wir berichteten).
Welche weiteren Folgen der Ausstieg des Stahlkonzerns hat, bleibt vorerst ungewiss. Immerhin fußt das geplante und sich derzeit in einzelnen Abschnitten bereits im Bau befindende deutsche Wasserstoffkernnetz auf Großkunden aus der Industrie. Doch während Medien bereits spekulieren, der Wasserstoffhochlauf sei nun gefährdet, gar müsse das Kernnetz neu geplant werden, halten drei weitere Stahlkonzerne – bislang – an ihren Vorhaben zur Dekarbonisierung fest: Die Salzgitter Flachstahl GmbH (Fördermittel: eine Milliarde Euro), Thyssenkrupp Steel Europe AG (zwei Milliarden Euro) und die SHS Stahl-Holding-Saar GmbH & Co KGaA (2,6 Millionen Euro) sind weiterhin dabei, ihre Stahlproduktionen auf perspektivisch grünen Wasserstoff umzustellen. Vielleicht wird es durch den Ausstieg des Konkurrenten ArcelorMittal für sie jetzt sogar leichter, den großen Wasserstoffbedarf zu decken – und sie können den Umstieg mit einem Wettbewerbsgewinn beschleunigen.
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Kommentar – Ganz klar: Reißleinen sind dafür da, damit man sie ziehen kann. Ein rechtzeitiger Rückzug im letztmöglichen Moment aus einem Vorhaben kann insbesondere kleinen Unternehmen den Hals retten. Dass auch Global Player davon Gebrauch machen, ist legitim. Aber Konzerne planen nicht leichtfertig und kurzfristig, sondern über Jahre hinweg. Dies kostet Zeit und Geld. ArcelorMittal wird intern für seine eigenen Verluste eine Lösung haben. Doch werden mit diesen Vorhaben auch Externe gebunden. Solche Pläne mit folgenden Fördermittelbescheiden werden aufwendig von Spezialisten geprüft: In den öffentlichen Verwaltungen von Eisenhüttenstadt, Bremen, Berlin und auch in Brüssel haben Ingenieure gerechnet, und Verwaltungsfachleute haben über Monate in Aktenbergen jedes Komma der eingereichten Unterlagen und Gutachten gecheckt, haben diskutiert und geprüft, dass alles mit verwaltungsrechtlich sicheren Dingen zugeht. Jemand sollte mal nachrechnen, wie viel Steuergelder hier für Material und Manpower verbrannt wurden – für nichts und wieder nichts. Die Arbeitsstunden fehlten in den Verwaltungen über Monate an anderer Stelle, und Arcelor blockierte somit womöglich erfolgreiche Projekte. Bürgergeldempfängern soll bei verpassten Terminen das sowieso schon schmale Budget gekürzt werden. Auch Weltkonzerne erhalten „Bürgergeld“ – und die Politik muss sie für ihre Fehlleistungen endlich zur Kasse bitten. Zumal auch nachgelagerten Unternehmen, die sich auf Arcelor glaubten verlassen zu können, geschädigt werden. Der Konzern trägt dazu bei, was er bei der Politik kritisiert: dass sich Rahmenbedingungen für Unternehmen „nicht in die erhoffte Richtung“ entwickeln. Andreas Lohse, Chefredakteur
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Kein Platz mehr für grünen Stahl: ArcelorMittal stoppt Pläne zur Dekarbonisierung des Stahlwerks Bremen. © ArcelorMittal S.A.