(Berlin) – Kanadas Premierminister Justin Trudeau und Bundeskanzler Olaf Scholz wollen in den nächsten Tagen ein Abkommen über erneuerbare Energien unterzeichnen. Dies beinhaltet auch eine Vereinbarung über den Export von Wasserstoff. Das Vorhaben will der deutsche Regierungschef während eines dreitägigen Besuchs des nordamerikanischen Landes auf den Weg bringen, heißt es in Berlin. Am kommenden Dienstag (23. August) stehen in Stephenville, letzte Station der Reise, „die Potenziale Kanadas im Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft“ im Zentrum der Gespräche.

Wasserstoff und Ammoniak aus Stephenville

Die World Energy GH2 Inc. will in dem gut 6.000 Einwohner zählenden Städtchen an der Westküste der Insel Neufundland grünen Wasserstoff und Ammoniak herstellen. Die Leistung der Anlage soll dereinst 0,5 Gigawatt betragen, heißt es in einem 125-seitigen Dokument zur Prüfung der Umweltverträglichkeit, das im Juni bei den Behörden eingereicht wurde und unserer Redaktion vorliegt. Werde das „Nujio’qonik GH2“ genannte Projekt genehmigt, sei dies „das erste seiner Art in Kanada“, so das Nachrichtenportal „Global News“, Teil des kanadischen Global Television Network.

Der Strom dafür wird in einem Onshore-Windpark erzeugt. In der ersten Phase entstehen 164 Turbinen mit einer Leistung von kumuliert einem Gigawatt nebst der erforderlichen Infrastruktur. Langfristig sei eine Verdreifachung der Projektgröße möglich. Geplanter Standort ist die Halbinsel Port au Port, kaum 15 Autominuten von Stephenville entfernt.

Neuer Markt für Kanada

„Kanada muss dringend in diesen neuen Markt eintreten, der so stark nachgefragt wird“, zitiert „Global News“ den Bürgermeister von Stephenville, Tom Rose. Erst in diesem Jahr habe die Provinz ein Moratorium für die Entwicklung von Windparks aufgehoben. „Wir sind jetzt in der Lage, das Zentrum für grüne Energie in Nordamerika zu werden“, ist der Politiker überzeugt.

Seine Stadt sei „ein idealer Ort“, da die Gegend für ihren „erstklassigen Windkorridor“ bekannt sei. Außerdem verfüge man über die Mittel, um die großen Mengen an Wasser zu produzieren, die für die Wasserstoffproduktion benötigt würden, so das Nachrichtenportal, da die Infrastruktur einer 2005 geschlossenen Papierfabrik „noch vorhanden ist“.

Das Konsortium

Im Mittelpunkt stehe die Zusammenarbeit mit den lokalen Interessengruppen, erklärt World Energy GH2: „Wir haben die indigenen Gemeinschaften Miawpukek First Nation und Qalipu bereits in einem sehr frühen Stadium in das Projekt einbezogen.“ Davon zeugt auch der Name: Mit „Nujio’qonik“ („wo der Sand weht“) haben einst die Mi’Kmaq die St. George’s Bay auf Port au Port beschrieben.

Den Kern des Konsortiums bilden vier Unternehmen. Dazu gehört die Investmentgesellschaft CFFI Ventures Inc. unter der Leitung des Milliardärs John Risley, Mitbegründer des größten Meeresfrüchte- und Muschelproduzenten Nordamerikas „Clearwater Seafoods“ in Nova Scotia. Das von CFFI verwaltete Vermögen wird auf mehr als eine Milliarde Dollar beziffert. Man bündele „das Fachwissen und die Ressourcen seiner verschiedenen Beteiligungen und externen Partner, um ein Team zusammenzustellen, das in der Lage ist“, die Provinz „als weltweit führenden Anbieter von grünem Wasserstoff und erneuerbaren Energien zu positionieren“.

Außerdem dabei: das Schifffahrtsunternehmen Horizon Maritime (St. John’s, Neufundland), das Meeresprojekte für Kunden wie Equinor (Norwegen), Exxon Mobil (USA) und Emera (Kanada) entwickelt. Es soll den Bau und die Logistik, die Entwicklung der Onshore-Abläufe sowie die Koordination der Schifffahrtsaktivitäten leiten.

World Energy, ein weiterer Partner, unterstützt Unternehmen etwa im Verkehrs- und Transportsektor bei der Reduzierung von Emissionen durch nachhaltige Flugkraftstoffe, erneuerbaren Diesel und grünen Wasserstoff. Vierter im Boot ist die DOB-Academy, die unter anderem Fortbildungen für die Windenergiebranche anbietet. Über diesen bisherigen Schwerpunkt hinaus entwickele das Unternehmen mit Niederlassungen in den Niederlanden und Japan den Angaben zufolge derzeit auch Angebote zum Thema Wasserstoff.

Die in dem Planungsgebiet liegenden Städte hätten bereits ihre Unterstützung zugesagt. Überdies seien die zumindest teilweise im Geschäftsfeld erneuerbare Energien tätigen Versorger Northland Power (Kanada) und Pattern Energy (USA) interessiert, sich an der Entwicklung zu beteiligen. Die Gespräche mit beiden Unternehmen befänden sich nach Angaben des Konsortiums „in einem fortgeschrittenen Stadium“.

Keine kurzfristige Lösung für Deutschland

Einige Energieexperten warnten allerdings davor, „dass ein Abkommen über den Verkauf von kanadischem Wasserstoff nur ein kleiner und teurer Teil der Lösung“ für die europäische Energiekrise sein wird, heißt es bei „Global News“. Das Produkt könne Deutschland „in nächster Zeit“ nicht umfassend helfen, da Kanada „noch nicht über die Infrastruktur verfügt, um große Mengen grünen Wasserstoffs zu produzieren oder ihn über große Entfernungen zu exportieren“.

Überdies erwartet World Energy GH2 Partners den Unterlagen zufolge die Produktion des ersten grünen Wasserstoffs frühestens Ende des zweiten Quartals 2024. Der Bau des Windparks soll demnach Ende 2023 beginnen.

Doch selbst nach Vorliegen einer Genehmigung könnten sich die Pläne verzögern. Medienberichten zufolge sind Bewohner von Cape St. George an der Südspitze der Halbinsel „not amused“, sondern äußerten sich „besorgt über die möglichen Auswirkungen des Projekts auf das empfindliche Ökosystem des Gebiets, in dem seltene und gefährdete Pflanzen“ vorkämen. Lokaler Widerstand ist also nicht ausgeschlossen.

Kanada setzt vorerst auf blauen Wasserstoff

Der Schlüssel liege darin, „dass man eine Menge zugehöriger Infrastrukturen aufbauen muss, bevor wir Wasserstoff in großem Maßstab in andere Länder exportieren können“, zitiert „Global News“ Amit Kumar, Vorsitzender für industrielle Forschung des Natural Sciences and Engineering Research Council und Professor für Ingenieurwissenschaften an der University of Alberta, der bei der Ausarbeitung der Wasserstoffstrategie für die Provinz Alberta konsultiert wurde.

Die Technologie müsse noch verbessert werden, sagt er, und erfordere weitere Investitionen, bevor die Kosten auch nur annähernd mit denen des aus Erdgas gewonnenen Energieträgers vergleichbar seien. Dies sei einer der Gründe, warum die kanadische Wasserstoffstrategie zunächst die Entwicklung von blauem Wasserstoff vorsehe, bevor sie schließlich auf grünen umgestellt werde, wird Kumar zitiert: „Wenn man ehrlich ist, ist das Angebot von grünem Wasserstoff in Kanada für den Export unaufrichtig.“

Foto
Naturschutz vs. Energiegewinnung: St. George Bay auf Port au Port, Neufundland (Aufnahme einer Webcam der Provinzregierung vom 17.8.2022). © Government of Newfoundland and Labrador (gov.nl.ca)

Grafik Mitte
Neufundland: Lage des Vorhabens (Screenshot aus der Environment Assessment Registration) © World Energy GH2 Inc.

Grafik unten
Mögliche Standorte der Windkraftanlagen auf Port au Port (Screenshot aus der Environment Assessment Registration) © World Energy GH2 Inc.

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