(Berlin) – Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und die Brüsseler Denkfabrik Bruegel haben untersucht, mit welchen Energieträgern das europäische Energiesystem ohne Kohle und Erdgas künftig den Energiebedarf vorrangig und klimafreundlich decken kann. In ihrer Analyse vergleichen die Wissenschaftler drei Optionen zur Ausgestaltung des künftigen Energiemixes: Strom aus erneuerbaren Energien, grüner Wasserstoff und grüne synthetische Gase. „Unsere Studie zeigt, dass die direkte Nutzung von Strom aus Erneuerbaren für Endverbraucher wie Unternehmen und Haushalte kostengünstiger und effizienter ist als eine indirekte Elektrifizierung, etwa über synthetische Gase oder Wasserstoff“, sagt die Mit-Autorin Franziska Holz. Klar ist auch, wenngleich nicht neu: „Um Klimaneutralität zu erreichen, muss die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden“ – und laut DIW bis 2050 im Vergleich zu 2019 vier bis sechs Mal höher liegen.

Insbesondere die Szenarien Wasserstoff und synthetisches Gas benötigten einen „sehr starken Ausbau der Stromerzeugung, da auch diese Energieträger mit Hilfe von Strom produziert werden“. Dabei werde ein Teil der Stromproduktion in Länder außerhalb der europäischen Union verlagert und in Form von Wasserstoff und synthetischem Gas importiert. „Energieimporte basieren in Zukunft auf der Stromerzeugung im Ausland anstatt auf dort geförderten fossilen Energieträgern.“

Wasserstoff als teurer Umweg

Solange nicht genügend Strom aus erneuerbaren Quellen zur Verfügung stehe, könnten Wasserstoff und synthetische Gase keine dominante Rolle in einem nachhaltigen Energiemix spielen. „Wenn nachhaltig produzierter Strom erst noch in grünen Wasserstoff oder grüne synthetische Gase umgewandelt wird, statt ihn direkt zu nutzen, ist das Ganze letztlich deutlich teurer“, so die Mit-Autorin Claudia Kemfert, DIW-Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt.

Denn die Herstellung von Wasserstoff oder synthetischem Gas sei gegenüber einem vorwiegend elektrischen System „mit höheren angebotsseitigen Investitions- und Energieimportkosten verbunden“. Beide Energieträger würden nur dann eine relativ große Rolle in der Energieversorgung Europas spielen, wenn sie durch die zukünftige Energiepolitik direkt präferiert würden.

Aufgrund ihrer aktuell mangelnden Wettbewerbsfähigkeit benötigten diese Technologien staatliche Förderungen, um im europäischen Energiesystem eingeführt und verbreitet zu werden. Selbst wenn die Herstellungskosten weiter sänken, „werden wahrscheinlich nur vergleichsweise geringe Mengen an Wasserstoff und synthetischem Gas genutzt“, heißt es in der Studie. Deren Verwendung würde sich hauptsächlich auf Sektoren beschränken, „in denen eine Elektrifizierung unmöglich oder nur schwer zu erreichen ist, wie zum Beispiel im Luftverkehr oder in bestimmten Bereichen der chemischen Industrie“.

Massiver Ausbau der Stromnetze erforderlich

Die Ausbaukosten für die Stromerzeugung würden in allen Szenarien mehr als die Hälfte der Investitionskosten betragen. Das Szenario Elektrifizierung erfordere einen umfangreichen Ausbau der Stromnetze, „der wegen der flächendeckenden Anbindung aller in Frage kommenden Energieverbraucher größer ist als in den anderen Szenarien“. Demgegenüber entstünden bei einem auf Wasserstoff ausgerichteten Energiesystem Kosten für die Umrüstung der Erdgasrohrleitungen auf den Wasserstofftransport.

Allerdings wäre der Bedarf an Investitionen in die inländische Stromerzeugung in den Szenarien Wasserstoff und synthetisches Gas „noch höher, wenn nicht ein Großteil der Stromerzeugung in das außereuropäische Ausland ausgelagert und in Form von Wasserstoff und synthetischem Gas importiert“ würde. Dies führe jedoch zu hohen Importkosten.

Die direkte Nutzung von Strom habe der Untersuchung zufolge auch einen höheren Wirkungsgrad als die Nutzung von Wasserstoff, synthetischem Gas oder von fossilen Energieträgern. „Bei gleicher Nutzenergie ist der Primärenergieverbrauch geringer und das Szenario, das sich auf eine weitgehende Elektrifizierung konzentriert, ist mit den geringsten Kosten verbunden.“

Wasserstoff als Schwankungsreserve

Unter Kostengesichtspunkten sei wiederum die Nutzung von Wasserstoff wahrscheinlicher als die Nutzung von synthetischem Gas. Wasserstoff könne eine Ergänzung zur weit verbreiteten Elektrifizierung sein, da er helfe, Schwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen und schwer zu elektrifizierende Nachfragebereiche klimafreundlich zu versorgen. Ein Energiesystem, das auf synthetisches Gas ausgerichtet sei, „ist die teuerste Wahl“. Denn „die Vorteile der Wiederverwendung bestehender fossiler Erdgasinfrastrukturen gleichen die hohen Investitions- und Betriebskosten für Produktionsanlagen zur Herstellung von synthetischem Gas nicht vollständig aus“.

Der Fokus der Politik sollte darauf liegen, „Rahmenbedingungen zu setzen, die die für eine weitgehende Elektrifizierung notwendigen Investitionen attraktiv machen“.

Die Studie „Zukunft des europäischen Energiesystems: Die Zeichen stehen auf Strom“ wurde im DIW-Wochenbericht 6/2022 veröffentlicht.

Deep Link
https://www.diw.de/de/diw_01.c.834869.de/publikationen/wochenberichte/2022_06_1/zukunft_des_europaeischen_energiesystems__die_zeichen_stehen_auf_strom.html

Grafik oben
DIW-Studie: „Das Verhältnis von Nutzenergie zu eingesetzter Energie ist bei direkter Elektrifizierung am höchsten.“ © DIW Berlin